Hilfen zur Erziehung – nicht systemrelevant? (??)

Gemeinsam mit anderen Trägern in der Kinder- und Jugendhilfe habt Ihr einen Aufruf an die Politik gestartet, um die Situation in den stationären Einrichtungen zu verbessern. Warum?

Wir haben – nicht nur seit Beginn der Corona-Pandemie – den Eindruck, die Hilfen zur Erziehung (HzE) sind ein in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung weitgehend vergessener Bereich. Kitas und Schulen finden viel Beachtung, weil sie zur Grundversorgung gehören und alle Familien natürlich unmittelbar von den dortigen Bedingungen betroffen sind und die Auswirkungen politischer Entscheidungen spüren.

In Zeiten von Corona wurden Regelungen und Hilfen für den HzE-Bereich oft erst später beschlossen als für Kitas, Schulen oder Pflege. Unser Bereich gilt nicht als systemrelevant, und die Betreuten gelten nicht als besonders vulnerable Gruppe. Das entspricht leider nicht der Realität in unseren Einrichtungen.

Und nur mal soviel zu „nicht systemrelevant“: Die Hilfen zur Erziehung sind im Segment des Kinderschutzes tätig. Wir betreuen in den stationären Einrichtungen Kinder und Jugendliche, die nicht in ihren Familien leben können, weil dort ihr Wohlergehen nicht sichergestellt werden kann. Wir haben die Verantwortung, ihnen ein Zuhause und einen professionellen Rahmen von Betreuung und Erziehung zu bieten, in dem sie sich gut entwickeln können. Die Kinder und Jugendlichen, die in unseren Einrichtungen leben, bringen oft einen großen Rucksack an Problemen mit und bedürfen daher einer intensiven Begleitung.

Wir reden hier also nicht von romantisch-harmonischen Ersatzfamilien wie aus der Margarinewerbung, sondern von oft massiven Herausforderungen, die alle Beteiligten – Betreute und Betreuende – tagtäglich bewältigen müssen. Und das rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche.

Die Situation ist inzwischen jedenfalls prekär in unserem Fachbereich, und darauf wollen wir aufmerksam machen. Wir brauchen jetzt die tatkräftige Unterstützung der Politik.

Was bedeutet prekär? Kannst Du die Situation in den Einrichtungen genauer beschreiben?

Der Personalschlüssel ist schon in normalen Zeiten sehr knapp bemessen. In der Pandemie mussten wir mit diesem Personalschlüssel, der darauf fußt, dass die Kinder und Jugendlichen die Schule oder Ausbildungsstelle aufsuchen, die dortigen Ausfallzeiten abfangen – Stichwort: Homeschooling. Je nach pandemischer Lage können wir zudem phasenweise aus Gründen des Infektionsschutzes nicht mehr in vollem Umfang auf Unterstützung durch Freiwillige oder Praktikant*innen zurückgreifen. Inzwischen beuteln uns die steigenden Infektionszahlen heftig, sie verursachen gleichzeitig einen steigenden Betreuungsbedarf und erhöhte Personalausfälle.

Unsere Mitarbeiter*innen stemmen seit zwei Jahren mit großem Engagement und persönlichem Einsatz alle Herausforderungen. Wir müssen ja jederzeit die Betreuung absichern. Für die Kolleg*innen bedeutet das, zu jeder Tages- und Nachtzeit einzuspringen, sobald andere ausfallen. Auch an Wochenenden und Feiertagen. Das hat massive Auswirkungen auf das Privatleben. Und alle spüren sicherlich die hohe Belastung und bräuchten dringend Erholung.

Da sich die Lage dauernd ändert, ist enorme Flexibilität gefragt. Ständig müssen kurzfristige Lösungen gefunden werden. Ich bin unglaublich froh und danke den Kolleg*innen sehr dafür, dass sie so pragmatisch handeln und bis jetzt noch jedes Problem gelöst haben. Ohne diesen Einsatz wären wir schlichtweg aufgeschmissen, denn wir können ja den Laden nicht einfach dicht machen. Schließlich haben wir die Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen!

Im Bereich der Hilfen zur Erziehung kommt – neben der Tatsache, dass wir schutzbedürftige Minderjährige betreuen – noch ein Faktor hinzu, der beispielsweise in der Pflege oder vielen Einrichtungen der Eingliederungshilfe so nicht besteht: Wir haben kleine Einrichtungen mit einer überschaubaren Zahl an Plätzen und einer entsprechend übersichtlichen Anzahl an Mitarbeiter*innen. Wir haben also viel weniger Schultern, auf die wir die Absicherung der Betreuung verteilen können – und je weniger wir mit Teilzeitstellen arbeiten und je mehr existenzsichernde Vollzeitstellen wir anbieten, desto weniger Menschen leisten die Betreuung und umso härter trifft uns ein Personalausfall. Fremde Vertretungen hereinzuholen ist wegen des sensiblen Arbeitsfelds eine absolute Notlösung – und auch diese Kräfte sind derzeit schwer zu bekommen.

Das alles ist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Die Initiatorin unserer Aktion hat es gut auf den Punkt gebracht: für uns wurde nicht mal geklatscht.

Welche wirtschaftlichen Folgen hat das alles?

Logischerweise steigt die Zahl der Überstunden deutlich an. Da es völlig unrealistisch ist, diese irgendwann abzubummeln, zahlen wir einen wesentlichen Teil davon aus. Hierfür gibt es keine Refinanzierung.

In einem unserer Häuser halten wir eine Etage – das entspricht fünf Plätzen – seit mehreren Monaten frei und nutzen sie als „Krankenstation“, in der wir alle Infizierten separat betreuen. Das schützt den Rest des Hauses vor Ansteckung und wir haben für dieses Konzept positive Rückmeldungen der Einrichtungsaufsicht bekommen. Die Kehrseite der Medaille sind allerdings erhebliche Einnahmeausfälle, da damit ein Drittel der verfügbaren Plätze nicht belegt sind.

Der Senat ist bereit, Kosten, die für die Anmietung von zusätzlichen Räumen für die separierte Betreuung Infizierter entstehen, zu übernehmen. Für eine Lösung im Bestand, die zumindest in unserem Fall organisatorisch viel schneller und leichter umsetzbar ist, gibt es keinen finanziellen Ausgleich. Aus unserer Sicht sind zusätzlich angemietete Räume auch deshalb keine gute Option, weil wir mit dem vorhandenen Personal die Betreuung an einem zusätzlichen Standort abdecken müssten und vorhandene Ressourcen der Wohngruppen wie Hauswirtschaft nicht nutzen könnten.

Ein weiteres Thema sind die zusätzlichen Ausgaben für Schnelltests und Schutzausrüstung. Wir erhalten immer wieder Schnelltests und FFP2-Masken von der Senatsverwaltung. Das begrüßen wir sehr, jedoch reichen diese Lieferungen für unseren tatsächlichen Bedarf nicht aus. Wir erhalten zum Beispiel pro Woche zwei Schnelltests je Mitarbeiter*in. Sobald wir einen Infektionsfall in der Einrichtung haben, müssen sich jedoch nach unserem Arbeitsschutzkonzept alle – Betreuende und Betreute – täglich testen. Die letzte Lieferung der Masken umfasste eine pro Mitarbeiter*in und Woche. Darüber hinaus benötigen wir für die Betreuung Infizierter zusätzliche Schutzausrüstung. Wir nehmen unseren Schutzauftrag für die Mitarbeiter*innen und die Betreuten sehr ernst und stellen gerne das Notwendige zur Verfügung. Doch die zusätzlichen Kosten dafür sind erheblich.

Was sind eure Forderungen an die Politik?

Wir benötigen einen realistischen finanziellen Ausgleich für die Mehrausgaben für Personal und Sachmittel, die uns seit zwei Jahren entstehen.

Ferner benötigen wir – nicht nur in Krisenzeiten wie diesen – eine bessere Personalausstattung.

Und nicht zuletzt: auch wir sind eine wichtige Säule der sozialen Unterstützung von Familien. Unsere Arbeit prägt Lebenswege und erfordert deshalb sehr viel Professionalität und Einsatzbereitschaft der Fachkräfte. Das verdient Beachtung und Wertschätzung.

Sylvia, vielen Dank für diese ausführliche Einschätzung der Situation!